Protagonisten Interviews

 

 

 

 

 

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Gesandter einer anderen Welt

Interview mit der Bloggerin Anna Pyzalski

Jedes Mal, wenn ich mich für dieses Würfel-Blind-Date fertig mache, breche ich in puren Schweiß aus. Was nicht gerade attraktiv ist, aber so ist es nun mal.

Was darf ich heute für ein Date mit einem mir unbekannten Protagonisten tragen?

Ihr erratet es … etwas Fieses.

Einen langen Mantel ohne etwas da drunter…. Danke liebe Christin für diese wunderbaren Ideen. Wenn ich nun auch noch irgendwo ganz böses landen werde, gebe ich vielleicht auf. Seid gespannt. Fürs erste mache ich mich, kaum angezogen auf den Weg ins Café, wo die unbekannte Person auf mich wartet.

In ein Dorf ans Ende der Welt haben sie mich bestellt. Stockenhausen! Es liegt in einer wenig besiedelten Gegend im Süden Deutschlands. Wenn ich schon reise, dann wäre ich lieber nach Berlin oder Hamburg gefahren, aber in ein Hinterwäldlerdorf?

Nun ja, was solls. Als Erkennungszeichen haben wir den Tisch am Fenster mit der roten Blume ausgemacht. Das Café könne ich nicht verpassen, wurde mir gesagt, es gäbe nur ein einziges im ganzen Dorf. Tatsächlich sprang es mir gleich ins Auge, liegt es doch direkt an der Hauptstraße.

Den Tisch muss ich ebenfalls nicht lange suchen. Das Café ist winzig, vor dem Schaufenster stehen sowieso nur zwei Tische, der eine ist leer und am anderen sitzt ein junger Mann mit braunen Locken vor einer roten Mohnblüte. Ich sehe ihn im Profil. Gerade Nase, sinnliche Lippen, weiche Kinnlinie: es ist noch ein junger Mann, doch er hat eine stattliche Figur. Nach der Länge seiner Beine zu urteilen, die er lässig unter dem kleinen Bistrotisch ausgestreckt hat, muss er mindestens ein Meter achtzig groß sein und ich wette, dass er einen Sixpack aufweisen kann, so athletisch wie er gebaut ist.

Jetzt blickt er auf und lächelt. Ich zucke zusammen. Du meine Güte, ist das etwa ein Werwolf? Das Gelb seiner Augen sieht aus wie tanzende Flammen! Unwillkürlich werfe ich einen Blick zur Tür. Vielleicht verzichte ich doch lieber auf das Interview?

Sein tiefes Lachen füllt den Raum, er winkt mich zu sich. »Keine Angst, ich bin kein Werwolf und ich habe auch nicht vor, Sie zu beißen.«

Mir wird heiß und kalt. Habe ich meine Gedanken etwa vor mich hingemurmelt und er besitzt ein Gehör wie ein Vampir? Für einen Blutsauger ist er aber eigentlich zu gebräunt. Auf was habe ich mich da nur wieder eingelassen? Unschlüssig darüber ob jetzt Flucht oder doch eher Totstellen angesagt ist, verharre ich bewegungslos auf der Stelle.

Der junge Mann steht auf und kommt ein paar Schritte auf mich zu. »Hallo, ich bin Elia und keine Sorge, ich bin ein Mensch wie Sie, zumindest zur Hälfte.« Er grinst und weist zur Tür. »Gehen wir, ich bringe Sie zum Zeitstrudel.«

Och, so schnell verlassen wir das Cafe schon wieder? Mein Blick streift die Theke, hinter der leckere Kuchen und Torten ausgestellt sind. Eigentlich stünde mir jetzt eher der Sinn nach einem gemütlichen Plauderstündchen bei Erdbeertorte und Capuccino. Natürlich habe ich auch gegen ein Abenteuer nichts einzuwenden, aber …

»Sie können beides bekommen, Anna. Abenteuer und Erdbeertorte.«

Dann gibt es also auch in seiner Welt leckeren Kuchen? Gut, das ist ein Kompromiss!

Elia hält mir die Tür auf und wieder höre ich sein leises Lachen, als ich an ihm vorbei ins Freie trete. »Tragen Sie immer nichts unter ihrem Mantel, wenn Sie sich mit einem Fremden zu einem Stück Erdbeertorte in einem Café verabreden?«

Verdammt, das ist jetzt peinlich. Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen schießt. Was denkt der Kerl jetzt von mir? Scheiße aber auch, dafür wird mir Christin Rechenschaft abgeben müssen! Warum macht sie mir auch immer so verrückte Auflagen?

Trotzdem, woher weiß der Mann, dass ich nichts anhabe unter meinem roten Schwinger-Mantel? »Sie sind mir dezent unheimlich«, bekenne ich. »Können Sie etwa Gedanken lesen?«

Er nickt, als sei das die natürlichste Sache der Welt und setzt sich in Bewegung.

Mir wird noch heißer. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einen Mann treffen will, der Gedanken lesen kann, dennoch beeile ich mich, ihn einzuholen. Mit seinen langen Beinen kommt er unwahrscheinlich schnell voran. Wir laufen die Dorfstraße entlang Richtung Wald. Von dort bin ich erst vor wenigen Minuten mit dem Auto gekommen.

»Am Anfang fand ich das Gedankenlesen der Mayas auch recht gruselig«, bekennt der junge Mann neben mir mit seiner dunklen angenehmen Stimme. »Man gewöhnt sich daran. Allerdings habe ich inzwischen auch gelernt, meine Gedanken vor neugierigen Zuhörern zu schützen.« Ein zärtliches Lächeln huscht über sein Gesicht. » Sogar Tiepa kann jetzt nicht mehr in mir lesen, wenn ich es nicht will.«

»Wer ist Tiepa?«, frage ich schwach.

»Das schönste Mädchen der Welt!«

Jetzt werde ich hellhörig. »Dann sind Sie frisch verliebt?«

»Seit einigen Jahren, ja.«

Ich muss grinsen. Obwohl ich keinen Moment daran zweifle, dass er von dieser Tiepa wirklich sehr angetan ist, so hell, wie das Feuer in seinen Augen lodert, wenn er von ihr spricht, kann ich es mir trotzdem nicht verkneifen, ihn darauf hinzuweisen, dass ›frisch verliebt‹ und ›einige Jahre‹ ein Widerspruch in sich ist.

»Für Mayas nicht«, klärt er mich auf. »Sie lieben nur einmal und das für immer.«

Oh, oh, das klingt schrecklich romantisch und ich kann nicht umhin, einen kleinen Seufzer auszustoßen. Ich meine, ewige Liebe wer wünscht sich das nicht?

»Ewige Liebe beinhaltet gleichzeitig ewige Trauer, sofern die Partner voneinander getrennt werden«, sagt er leise und ich spüre, dass er aus Erfahrung spricht. Vielleicht ist er doch nicht mehr so jung, wie er mir erscheint?

Inzwischen haben wir das Dorf hinter uns gelassen und wandern die Landstraße entlang. »Dann habt Ihr Eure Tiepa einmal verloren?«, frage ich behutsam, schließlich will ich nicht aufdringlich sein.

Er nickt und seine Miene verdüstert sich. »Eigentlich muss ich dankbar sein, dass mir der Nebel des Vergessens alle Erinnerungen an sie genommen hat, sonst hätte mich der Schmerz umgebracht.«

»Dort, wo Sie mich hinbringen, gibt es aber keinen Nebel des Vergessens, oder?«, frage ich leicht beunruhigt. Eigentlich würde ich gern wohlbehalten und im Besitz all meiner Gedanken und Erinnerungen wieder zurückkehren.

»Nein, aber Sie sollten unbedingt darauf achten, weder einem Gedankenräuber zu begegnen, noch sich von einem Schena stechen zu lassen.«

»Was ist das, ein Schena?«

»Eine Mücke, die Erinnerungen saugt. Nach einem Stich schlafen Sie einige Tage und danach haben Sie irgendetwas unwiederbringlich vergessen.«

Ich kratze mich am Kopf. »Das klingt irgendwie, als hätten es die Monster in ihrer Welt vor allem auf Gedanken abgesehen.«

Er nickt. »In meiner Welt sind Gedanken das wertvollste Gut, das wir besitzen.«

Irgendwie gruselig. Ich beschließe, auf jede summende Mücke zu achten und niemanden an meinen Kopf heranzulassen. »Hat der Nebel des Vergessens dann ein Einsehen gehabt und Ihnen Ihre Erinnerung wiedergegeben?«

Er schnaubt. »Das wäre schön gewesen, aber nein, ich musste ihn erst besiegen, bevor ich ihn auflösen konnte.« Ein Mann mit einer Mission, das gefällt mir! Verstohlen mustere ich ihn von der Seite. Irgendwie wirkt er auf mich wie ein Künstler. Die langen schlanken Finger sind wie gemacht zum Klavierspielen, die weiche Kinnlinie, die vollen Lippen … empfindsam! Ich wette, er kann ganz hervorragend küssen. Ein Mann zum Verlieben, wenn … na ja, wenn er nicht diese unheimlich gelben Augen gehabt hätte. Diese Tiepa muss echt mutig sein, dass sie einen wie ihn als Partner erwählt.

Unvermittelt biegt er von der Straße in einen Waldpfad ab. Mir wird kurz mulmig. Wer geht schon mit einem Fremden in den Wald? Aber dann tröste ich mich damit, dass er mir bestimmt nichts antun wird, wenn er doch so sehr in seine Tiepa verschossen ist.

Hier im Wald muss ich hinter ihm hergehen, so schmal ist der Pfad. Das Unterholz rechts und links ist dicht und die Baumkronen tauchen alles in ein Dämmerlicht, dabei ist gerade erst früher Nachmittag. »Ihr Sieg über den Nebel ist dann wohl auch der Grund, warum Sie ihre Tiepa wiederbekommen haben, oder?«, frage ich tapfer, um das Gespräch wieder ins Rollen zu bringen.

»Nein, das Wiedersehen habe ich wohl eher unserer Göttin zu verdanken, nach deren Willen es mir bestimmt war, Tiepa zu heiraten.«

»Sie sagen das so, als seien Sie nicht unbedingt froh darüber«, hake ich leicht beunruhigt nach. Gerade eben wirkte er doch noch so verliebt!

»Ich bin glücklich mit Tiepa und ich wollte niemals eine andere Frau haben, als ausgerechnet sie, aber ich lasse mir nicht gerne vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe.«

Klar, wer will das schon! Ich nicke verständnisvoll, bis mir ein neuer Gedanke durch den Kopf schießt. »Wenn sich Mayas nur einmal verlieben können, ist es dann nicht umso wichtiger, dass sie sich in den richtigen Partner verlieben? Insofern ist eine göttliche Vorherbestimmung doch durchaus sinnvoll, oder?«

Über die Schulter hinweg wirft er mir einen missbilligenden Blick zu. »Solche Worte aus dem Mund einer emanzipierten Frau der heutigen Zeit zu hören, erstaunt mich jetzt aber doch einigermaßen.«

Ich fühle mich gemaßregelt und schweige leicht verstimmt.

»Die Praktiken der Vorherbestimmung in Maya besitzen nicht unbedingt meine ungeteilte Zustimmung«, fährt er versöhnlicher fort, »aber darüber will ich jetzt nicht reden. Es geht ja nur darum, dass Sie einen Einblick in meine Welt bekommen, nicht wahr?«

Seine Entschuldigung ist bei mir angekommen, also nicke ich und stolpere weiter hinter ihm her. Wir folgen dem schmalen Waldpfad, der sich durch den Mischwald aus Fichten und Buchen schlängelt. Die Luft ist kühl und riecht nach Feuchtigkeit.

»Wieso wurden ausgerechnet Sie geschickt, um mich abzuholen?« Die Frage ist durchaus berechtigt. Ich meine, wer schickt schon einen Kritiker, wenn er ein System anpreisen will?

»Weil ich mit den Gepflogenheiten der Erde bereits bekannt bin. Immerhin habe ich die ersten sechzehn Jahre meines Lebens hier verbracht.«

»Weil Sie ein Mischling sind«, sage ich und bin stolz auf meine schnelle Auffassungsgabe.

»Genau. Und weil ich über den Gesang verfüge, der den Zeitstrudel erst aktiviert.«

Echt jetzt? Er will mir ein Lied vorsingen? Ein Ständchen auf dem Klavier wäre mir ehrlich gesagt lieber gewesen, da kann man nicht so viel falsch machen.

»Ich spiele kein Klavier«, kommt es trocken von vorn.

»Aber ein Künstler sind sie schon, oder?«

»Auf der Erde habe ich viel gemalt und es dabei zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. In Maya jedoch hat sich das erübrigt.«

»Wieso?«, frage ich enttäuscht darüber, dass er sein Talent so einfach verkümmern lässt. »Gibt es in Maya denn keine Farben?«

»In Maya gibt es alles, was ich will, aber es ist nun mal nicht nötig, nach einem Pinsel zu greifen, wenn man sich genausogut das fertige Gemälde erdenken kann.«

Das ist doch kein Argument! Ich meine, wenn man Spaß daran hat, kann man doch trotzdem noch malen, oder? Aber das spreche ich nicht aus, stattdessen frage ich, ob er deshalb auf Musik umgestiegen sei und sich als Sänger versuche.

Ein kurzes Glucksen, dann lacht er. »Gewiss nicht! Wenn Sie mit ausdrucksvollen Gesängen verwöhnt werden wollen, müssen Sie sich schon an die Naarij halten.«

»Wer oder was ist das?«, frage ich interessiert nach.

»Menschenabkömmlinge, die das Gegenteil von uns Mayas sind, und die andere Seite meines Planeten bewohnen. Sie sprechen nicht über Gedanken miteinander, sondern singen jedes verdammte einzelne Wort, das sie von sich geben.«

»Oh«, sage ich und denke, dass ich vielleicht doch lieber nach Naarija gereist wäre, als nach Maya. Singende Menschen sind mir auf jeden Fall sympathischer als gedankenlesende.

»Nach Naarija wollen sie nicht, glauben sie mir«, sagt Elia und weist auf die Stufen, die zu dem Ufer eines Weihers hinabführen. »Bitte nach ihnen!«

Ich habe keine Ahnung, was ich dort unten soll, aber ich tue, was er sagt. »Wieso meinen Sie, ich sollte besser nicht nach Naarija reisen wollen?«, hake ich vorsichtig nach.

»Weil es dort vermutlich noch tödlicher ist als in Maya. In Feuerland wimmelt es nur so von gefährlichen Tieren, vor denen ich Sie nicht schützen kann. Abgesehen davon, dass sie dort nicht atmen könnten.«

»Weil es so heiß ist, vermute ich mal.«

»Heiß ist es auch, aber das ist nicht der Grund. Sie sind ein Mensch und an die Erde gebunden. Deshalb können Sie sich auch nicht weit vom Zeitstrudel entfernen, der die Erde mit Philian verbindet. Wir werden darum in der Versunkenen Stadt bleiben müssen.«

In meinem Kopf rattert es. Ein Planet, zwei Hälften, unterschiedliche Völker, die sich nicht grün sind… Feuerland und Wasserland?

»Die Stadt liegt aber nicht unter Wasser, wenn sie die versunkene Stadt heißt, oder?«, frage ich und werfe einen vorsichtigen Blick über die Schulter.

Elia lächelt. »Korrekt heißt es: Feuerland und Wasserwelt, aber nein, Maya wird nur deshalb mit Wasser in Verbindung gebracht, weil das Land jede beliebige Form annehmen kann, eben wie Wasser, das man in ein Gefäß gießt.«

Wir sind am Ufer des Weihers angekommen und Elia grinst, als er sagt: »Ich würde ihnen raten, den Mantel hier im Trockenen zurückzulassen. Wir müssen nämlich ins Wasser hineingehen, um nach Maya zu gelangen.«

»Aber ich bin nackt darunter«, quieke ich entsetzt.

Elia zuckt mit den Schultern. »Es wäre nur für die Reise. In Maya können Sie sich jedes Kleidungsstück erdenken, das sie sich nur wünschen. Natürlich könnten Sie sich dort auch ihren Mantel wieder trocken denken, doch beim Rückweg würde er erneut nass werden und sie müssten so nach Hause fahren.«

»Das nehme ich in Kauf«, sage ich rasch und erröte leicht. Die Vorstellung, mich vor dem Fremden auszuziehen, mutet mir doch recht seltsam an.

»Ganz wie Sie wünschen.« Jetzt zieht er sich selbst das T-Shirt über den Kopf, schlupft aus seiner Jeans, die er sorgfältig zusammenlegt, und verstaut beides in einer Plastiktüte. Die Tatsache, dass er keine Unterwäsche trägt, scheint ihn dabei nicht zu stören. Ich weiß nicht genau, ob ich hinsehen oder verschämt den Blick abwenden soll.

Das Päckchen verstaut er hinter einem losen Brett der Hütte, die etwas weiter oben am Ufer steht, vermutlich für spätere Ausflüge in die Menschenwelt. Dann kommt er zurück und streckt mir die Hand hin. »Kommen Sie, wir müssen in den Weiher hinein waten. Doch Vorsicht, die Steine sind glitschig.«

Ich weiß nicht, wie ich die Vorstellung finde, mit einem nackten Mann in einen Zeitstrudel zu steigen, der mich sonst wohin bringt. Aber ich muss zugeben, dass es sich bei ihm um ein sehr anschauliches Exemplar seiner Gattung handelt. Also ergreife ich seine Hand und eiere über den unebenen Grund ins kalte Wasser. »Nicht loslassen«, sagt er, als wir schon hüfttief im Wasser stehen und dann ertönt plötzlich eine Melodie, die mich sofort in ihren Bann zieht. Ein ganzes Orchester spielt auf, doch ich könnte den Klang der einzelnen Stimmen keinem mir bekannten Instrument zuordnen. Vergessen ist die Kälte des Wassers, ich schließe genießerisch die Augen und fühle, wie mich die Töne einem Energiestrahl gleich durchfluten. Im nächsten Moment braust es und wir werden rasend schnell in die Tiefe gerissen. Ich will schreien, aber dann würde ich nur Wasser schlucken. Also reiße ich stattdessen die Augen auf und finde mich in einer seltsamen Kapsel wieder. Gesponnen aus leuchtenden Fäden und erfüllt mit der wundervollen Melodie. Mein Mantel ist pitschnass aber mich selbst umgibt kein Wasser mehr, ich kann atmen.

Das ist also der Gesang, von dem Elia gesprochen hat, denke ich und begreife im selben Moment, dass mein Reisepartner ihn hervorruft. Der Gesang ist der Schlüssel, der den Zeitstrom aktiviert.

Elia lehnt mir gegenüber an der Wand, die Augen geschlossen, ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht. Ich nutze die Gelegenheit und mustere ihn verstohlen. Er hat einen männlich schönen Körper mit muskulösen Schenkeln, einer schmalen Hüfte und …. tatsächlich einem Waschbrettbauch. Irritierend daran finde ich lediglich die faustgroße Spirale, die ich rechts neben seinem Bauchnabel erspähe. Ein Leberfleck, der sich über das normale Hautniveau erhebt, doch die Form ist ungewöhnlich. Fast wie ein Tatoo. Mit magischer Bedeutung?

»Das ist das Fluchmal«, sagt Elia, ohne die Augen zu öffnen.

Verdammt, er hat mich dabei erwischt, wie ich ihn bespannere! Ich will wegsehen, aber ich will es auch wieder nicht, denn er bietet einen wirklich schönen Anblick. Also beschließe ich, mich so lange an seinem Aussehen zu erfreuen, bis er es mir verbietet.

»Dann sind Sie also verflucht?«, frage ich mitleidig. Vielleicht hat er ja deshalb so komische Iriden?

Elia öffnet das rechte Auge einen spaltweit und blinzelt zu mir herüber. »Nein, das Prophetenfeuer auf meiner Iris habe ich von meinem Vater geerbt.« Er schweigt einen Moment, bevor er erklärt: »Alle Mayas sind verflucht. Deshalb altern wir auch nicht und deshalb können wir nur einmal lieben.«

Wenn das so ist, sollte der Fluch doch wohl eher Segen heißen, oder? Mir kommt eine tolle Idee. »Ist es möglich … ähm. Kann ich mich in Maya auch verfluchen lassen?«

Jetzt muss er lachen und öffnet die Augen ganz. »Nein, der Fluch wird weitervererbt. Alternativ könnten Sie natürlich in den Hades hinabsteigen und aus dem Styx trinken, doch ich befürchte, da kämen Sie nie wieder raus.«

Ich schüttele mich. Nein, die Totenwelt der Griechen ist jetzt nicht unbedingt ein Ort, den ich schon immer mal aufsuchen wollte. Verzichte ich also auf meine Unsterblichkeit.

»Unsterblich sind wir nicht«, erklärt Elia amüsiert. »Wir leben 70 oder 80 Jahre und sterben dann in der Blüte unseres Lebens.«

»Werdet ihr nie krank?«

»Im Normalfall nicht. Aber es gibt einige Gefahren in Maya, die uns auch schon vor unserem eigentlichen Ende dahinraffen können.«

»Was da wären …?«

»Nun, Gedankenräuber zum Beispiel, oder Tamburi. Nicht zu vergessen das SchumDaWar.«

Klingt gruselig, vor allem deshalb, weil ich keine Ahnung habe, was sich hinter den Begriffen verbirgt. »Und was muss ich mir darunter vorstellen?«, frage ich bang.

»Nichts. So lange Sie die Stadtmauern der versunkenen Stadt nicht verlassen, werden Sie keinen Gedankenräubern begegnen. Vor dem SchumDaWar kann ich Sie ebenfalls schützen und einen Tambur werden sie sich ja wohl hoffentlich nicht erdenken.«

»Wenn Sie mir sagen, worum es sich dabei handelt, kann ich Ihnen vielleicht sagen, ob ich in Gefahr stehe, mir einen ›zu erdenken‹, wie Sie es immer so schön ausdrücken.«

Er wirft mir einen prüfenden Blick zu. »Sie leiden nicht unter irgendwelchen Phobien oder anderen krankhaften Ängsten, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Nicht dass ich wüsste.«

»Gut, dann wäre das ja geklärt.« Er springt auf und streckt mir wieder die Hand hin, um mir beim Aufstehen zu helfen. »Wir sind gleich da.«

Automatisch ergreife ich seine Hand und sehe ihn erwartungsvoll an. Wirklich erklärt hat er mir das Phänomen der Tamburi noch immer nicht.

»Tamburi sind gestaltgewordene Ängste, die gemäß ihrer bösartigen Natur nicht nur denjenigen angreifen und töten können, der sie erdacht hat, sondern auch alle anderen Personen, die sich in der Nähe befinden.«

»Das heißt, ich sollte besser keine Angst haben?«,

»Besser nicht«, bestätigt er. »Aber keine Sorge, ich passe auf Sie auf, so dass sie erst gar nicht in eine Situation geraten, in der sie in Gefahr stehen, Ängste zu entwickeln.«

Jetzt stehen wir dicht nebeneinander in der kleinen Kapsel. Seine Haut ist längst getrocknet, doch mir klebt der Mantel nass und unangenehm am Körper. Ich zerre ihn in Form. Vielleicht hätte ich doch lieber seinem Rat folgen sollen?

»Hätten Sie definitiv«, bestätigt er. »Zumal sie den Mantel heute sowieso noch ausziehen werden.«

Energisch schüttle ich den Kopf. Männern, die wie er mit einem perfekten Körper gesegnet sind, macht es vielleicht nichts aus, sich nackt vor einer Fremden zu präsentieren, ich zähle jedoch nicht dazu. Weder zu den Männern noch zu denen, mit einem perfekten Körper.

Er lacht und beugt sich etwas zu mir herunter. »Nur um Sie schon mal darauf vorzubereiten: Gegen Ende des Gespräches wird Ihnen warm sein und Sie werden fasziniert von meiner Welt nicht mehr daran denken, dass sie unter dem Mantel nackt sind. Was sie getan haben, wird ihnen erst bewusst werden, nachdem sie sich den Mantel bereits über die Schulter gestriffen haben.«

Soll das jetzt eine besondere Art der Anmache sein? Unwillkürlich ziehe ich den Mantel etwas enger über der Brust zusammen, was völlig unsinnig ist, da er mit sieben Knöpfen verschlossen ist und unmöglich aufklaffen kann. Außerdem sind sieben Knöpfe wirklich genug, um sich beim Öffnen derselben daran zu erinnern, dass man den Mantel besser anlässt, wenn man nichts darunter anhat. Völliger Blödsinn also, den er da von sich gibt!

Zum Glück erspart mir ein Rütteln und Schütteln eine Antwort. Der Griff von Elias Fingern wird fester und im nächsten Augenblick stehe ich inmitten einer antiken orientalischen Stadt mit tausend kleinen Gassen und Gässchen.

Elia neben mir ist plötzlich in eine weiße Toga gekleidet. »Landestracht«, sagt er mit einem Lächeln, das irgendwie unglücklich erscheint. Hat er sich in seiner Zeit auf der Erde so sehr an Jeans gewöhnt, dass ihm das altertümliche Kleidungsstück der Griechen jetzt als unangemessen erscheint? Mir gefällt es jedenfalls an ihm. Mit Toga sieht er nur noch mehr zum Anbeißen aus als vorher.

Ich sehe mich um. Scheint, als befände sich niemand außer uns in der Stadt. Eine entzückende Stadt übrigens! Aus hellem Stein gebaute Häuser mit flachen Dächern schmiegen sich an den Hügel, der sich sanft aus der umgebenden Ebene erhebt. Über der Spitze des Hügels entdecke ich eine zweite Ebene. Ein schwebender Tempel mit weitgestreckten Gärten. Wow, so etwas Verrücktes habe ich noch nie gesehen. Wie kann es sein, dass das Gebilde der Schwerkraft trotzt? Denn Schwerkraft gibt es hier, genauso wie auf der Erde. Das stelle ich fest, indem ich gleich ein paar Mal auf und ab hüpfe.

Ein Schmunzeln umspielt Elias Lippen. »Sie sind in Maya gelandet, Anna, nicht auf dem Mond!«

»Aber was hält den Tempel dort oben dann in der Schwebe?«

»Ein Befehl der Großen Göttin.«

Die hat er schon einmal erwähnt und nun bin ich doch neugierig. »Hier gibt es echte, lebendige Götter?«

»Die gibt es auf der Erde auch, nur dass sie sich dort in den Olymp zurückgezogen haben.«

Aha. »Und wer genau ist die ›Große Göttin‹ von der Sie sprechen?«

Er hält kurz inne, dann richtet er seinen unheimlich gelben Blick auf mich. »Scheint, als habe Aletheia nichts dagegen, wenn ich Ihnen ihren Namen verrate. Sie ist die griechische Göttin der Wahrheit und Herrscherin über Philian, aber behalten Sie das für sich. Wer ihren Namen unbefugt ausspricht, wird schnell mal von ihrem Blitz verkohlt. Sprecher wie Hörer, wohlgemerkt!«, fügt er noch bedeutungsvoll hinzu.

»Hätten Sie mir dann so leichtfertig antworten sollen?«, frage ich ängstlich und spähe um mich. Nicht, dass doch noch von irgendwo her ein Blitz angesaust kommt.

»Keine Sorge, ich habe die Zukunft abgechekt, bevor ich geantwortet habe.«

Was auch immer er damit ausdrücken will, ich vergesse meine dahingehende Frage, als ein Windstoß meinen Mantel ergreift und an meinen nackten Beinen streifen lässt. Erst jetzt wird mir bewusst, dass der Stoff vollständig getrocknet ist. So schnell kann das doch gar nicht passiert sein. Ich meine, bei meiner Landung hat er noch schwer wie ein Sack auf meine Schultern gedrückt.

»Ich habe mir erlaubt, ihn trocken zu denken«, erklärt mein Begleiter und setzt sich in Bewegung. »Wo wollen Sie ihre Erdbeersahnetorte essen? Hier, in irgendeinem Gässchen oder dort oben, auf dem Tempelgelände?«

»Nun, wenn ich schon mal hier bin …«

Er nickt und biegt in die Hauptgasse ein, die schnurgerade und breit auf die Spitze des Hügels zuläuft. »Ich hoffe, um Ihre Kondition ist es gut bestellt. Wir werden 295 Stufen bewältigen müssen.«

Einen Moment kommen mir Bedenken, aber dann lächle ich zuversichtlich. Mit dem Treppensteigen verdiene ich mir gleich die Kalorien, die ich dort oben verspeisen werde.

Als wir die Spitze des Hügels erreichen und ich die Treppe sehe, die sich ohne Geländer über eine Querseite und fast eine ganze Längsseite des Platzes in die Höhe schraubt, weiß ich plötzlich nicht mehr, ob ich nicht doch lieber mit einer der hübschen kleinen Gässchen hätte Vorlieb nehmen sollen. 50 Höhenmeter sind kein Klacks! Aber Elia ist schon die ersten Stufen hinaufgeeilt und so bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.

Oben angekommen schnaufe ich wie eine Dampflock und mein Gesicht ist sicher so rot wie mein Haar, während keine Anzeichen darauf hinweisen, dass sich Elias Puls durch das Erklimmen der Stufen auch nur ein wenig erhöht haben könnte. Verdammte durchtrainierte Männer!

Ich vergesse meinen Ärger, als mich Elia vom Hauptweg mit den herrlich blühenden Rhododenronbüschen in einen kleinen Nebenweg zieht, der zu einem gekiesten Platz mit Springbrunnen führt. Das sanfte Plätschern des Wassers erschafft eine schöne Atmosphäre und ich begrüße Elias Wahl des Sitzplatzes. Theoretisch jedenfalls, denn leider gibt es hier weder einen Tisch noch eine Bank, auf der man die Erdbeersahnetorte verspeisen könnte, die man hier ebenfalls nicht kaufen kann.

Dann jedoch entsteht vor meinen ungläubigen Augen ein eisengeschwungener Bistrotisch mit zwei zierlichen Stühlen, die so ausgerichtet sind, dass beide Personen den Blick über Blumenrabatten und Büsche hinweg auf den Tempel genießen können. Ein griechischer Tempel mit Säulen und allem drum und dran, alles in allem ein riesiger Gebäudekomplex.

Eine weiße Tischdecke erscheint, zwei Teller mit einem schönen Rosenmuster, passende Tassen, eine dazugehörende dampfende Kaffeekanne und eine Tortenplatte mit eben jener Erdbeertorte, die ich in der kleinen Bäckerei auf der Erde gesehen habe.

»Milch? Zucker?«, fragt Elia und lässt im nächsten Augenblick Kaffeekännchen und Zuckerdose auf dem Tisch erscheinen. Dazu zwei Kuchengabeln. Mir scheint, er kann nicht nur Gedanken lesen, sondern auch noch zaubern.

»Nein, kann ich nicht.« Er lacht. »Aber in Maya herrscht Gedankenkraft. Hier kann man sich alles erschaffen, was man sich vorstellen kann. Die Weisen unter uns dauerhaft, diejenigen mit weniger Intuition nur für einen gewissen Zeitraum.«

Darauf weiß ich nichts zu erwidern und nehme wortlos Platz. Der Kuchen macht mich echt an und so zögere ich nicht, jeweils ein Stück der Torte auf unsere Teller zu schaufeln, während Elia einschenkt.

Der Duft des Kaffees steigt mir lieblich in die Nase. Hmm, lecker, in dem Ambiente wird der gemütliche Kaffeeklatsch noch viel angenehmer sein, als wenn wir ihn in dem kleinen Cafe in Stockenhausen veranstaltet hätten. In der nächsten halben Stunde löchere ich mein Gegenüber und entlocke ihm alle Geheimnisse des faszinierenden Planeten, auf dem ich mich gerade befinde. Von ihm erfahre ich auch, dass es noch weitere Planeten in Aletheias Sonnensystem gibt und dass jeder eine eigene faszinierende Welt darstellt.

Ich lasse mir von ihm seine Abenteuer in Feuerland erzählen und dabei wird mir so heiß, dass ich den Mantel aufknöpfe. »Woher kommt die Wärme in Maya, wenn es hier doch gar keine Sonne gibt?«, erkundige ich mich und streife den Mantel über meine Schultern. Man ist mir heiß!

Elia lacht. »Wir leben zwar auf der sonnenabgewandten Seite, aber über die Grenze zu Feuerland strömt dennoch genügend Wärme zu uns herüber. Solange wir nicht wieder in gegenseitige Feindschaft verfallen, bleiben die Grenzen durchgängig, so dass wir Sonnenenergie von Naarija erhalten und sie Wasser von uns.«

Als ich meinen rechten Arm aus dem Ärmel des Mantels ziehe, wird mir bewusst, was ich da gerade tue und ich zerre ihn hastig wieder nach oben, schlage die Mantelenden übereinander und starre mein Gegenüber entsetzt an.

Ein amüsiertes Lächeln spielt um Elias Lippen.

»Woher wussten Sie, dass das passieren würde?«, frage ich beschämt. Er zuckt mit den Schultern. »Ich kann in die Zukunft sehen.«

Hastig knöpfe ich meinen Mantel wieder zu. Schweißtropfen rinnen mir den nackten Rücken hinunter, aber das ist mir egal. Wen kümmert es schon, wenn ich hier vor Hitze vergehe?

»Sie hätten besser auf mich gehört«, bemerkt Elia grinsend. »Dann hätten sie jetzt hier in einem luftigen Sommerkleidchen sitzen können.«

 »Schon, aber woher hätte ich denn wissen sollen …«, stammle ich.

Elia lacht wieder und steht auf. »Länger als eine halbe Stunde soll ich sie nicht hierbehalten, hat Aletheia gesagt. Ich denke, sie wird gleich hier sein, um sie zurückzubringen.«

»Wir reisen nicht wieder durch den Zeitstrudel?«, frage ich verunsichert.

»Sie schon, ich nicht«, antwortet er und weist in den Himmel. »Der Eingang zum Zeitstrudel liegt dort oben, dreihundert Meter über dem Erdboden, für mich unmöglich zu erreichen.«

Mit einem Mal steht eine Frau in einem weißen, wehenden Seidengewand vor uns. Ihre dunkelblonden Haare hängen ihr offen bis zum Po und ich fühle das unbändige Bedürfnis, mich tief vor ihr zu verbeugen. Das tue ich dann auch, bezaubert von dem Blick in ihre warmen hellbraunen Augen. Nie zuvor habe ich so schöne Augen gesehen, ohne Frage, das muss die Göttin der Wahrheit sein. »Hoheit …« stammle ich und bin mir nicht sicher, ob das die richtige Anrede ist.

Sie lächelt gütig. »Göttin genügt völlig, Anne. Und nun gib mir deine Hand ich werde dich in deine Welt zurückbringen.« Sie streckt mir ihre Finger entgegen und ich gehe wie träumend auf sie zu. Heiliger Bimbam, gleich werde ich eine echte Göttin berühren! Das … das wird mir auf der Erde keiner glauben!

Kaum habe ich meine Hand auf ihre gelegt, greift sie zu und saust so schnell in die Höhe, dass ich erst merke, dass wir geflogen sind, als ich bereits wieder am Ufer des versteckten Weihers im Wald von Stockenhausen stehe. 

»Ich nehme an, du findest den Weg zurück ins Dorf allein«, sagt die Göttin und mir ist, als müsste ich weinen. Ich will nicht, dass sie wieder aus meinem Leben schwindet, als sei sie niemals dagewesen.

»Ist Erinnerung alles, was mir von Euch bleibt, edle Göttin?«, frage ich mit zitternder Stimme und nun rollt mir tatsächlich eine Träne über die Wangen.

»Ich bin die Göttin der Wahrheit«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Widerstehe der Versuchung, dich selbst oder andere zu belügen, spiele niemandem etwas vor, dann bist du mir nah.«

Mit diesen Worten verschwindet sie vor meinen Augen.

In Gedanken versunken wandere ich den schmalen Pfad durch die Bäume zurück ins Dorf, zurück zu meinem Auto, zurück in mein altes Leben. Doch es wird nie wieder so sein, wie es zuvor gewesen ist.

Götter im Wettbewerb

Interview mit der Bloggerin Viktoria M. Keller

Ha, das gefällt mir! Endlich kann ich mal über die Göttin ablästern. Ich meine, hallo, das junge Ding bekommt ein Kapitel nach dem anderen und ich? Ganze 6 Sätze darf ich in dem 900 Seiten-Wälzer sprechen! Dabei bin ich ein Gott der zweiten Generation und entstamme dem edlen Haus von Nyx, der Göttin der Nacht.

 

Genau wie Dolos, dieser elende Daimon der Täuschung und des Betrugs, der neben der lächerlichen Göttin der Wahrheit die Hauptrolle besetzt. Dabei ist er nur ein Daimon! Ich schäme mich, dass er dieselbe Göttin seine Mutter nennt wie ich.

 

Wie die Göttin heißt, fragst du? Deren Namen kennt kein Mensch, sag ich dir! Selbst vor uns Göttern hält sie ihre Abstammung geheim, versteckt sich vor Zeus unter den Gästen des Olymps und belästigt mich. Jawohl, du hast ganz richtig gehört. Dieses unverschämte Ding läuft nackt herum, wie es nur Jungfrauen zusteht, und bespringt mich! 

 

Das kannst du dir nicht vorstellen? Da hör doch selbst! Natürlich erzählt Aletheia die Begebenheit und verdreht sie dementsprechend, dennoch denke ich, wirst du meinen edlen Charakter durch ihre primitiven Worte hindurch erkennen!

 

* * *

 

Stattdessen sehe ich Momos, den Gott des Tadels, die Straße hinuntereilen. Seine missmutige Miene lässt darauf schließen, dass in der Oberstadt irgendetwas passiert ist, was seinen Unwillen erregt hat. Was? Das will ich gern wissen. Also springe ich keine zwei Schritte von meiner Haustür entfernt und … stürze aufs Pflaster, mitten auf die Straße, direkt neben Momos. Schmerz durchzuckt mich, doch ich achte nicht darauf. Geistesgegenwärtig nehme ich einen zweiten Anlauf, bevor Momos sich zu mir umdrehen kann, und werde erneut zurückgeschleudert.

Stöhnend reibe ich mir das Knie. Unmöglich, dass Momos seinen Gedankenraum gegen mich verschlossen haben könnte, er hat mich doch gar nicht gesehen. Ganz abgesehen davon rechnet er gewiss nicht damit, dass jemand in seinem Kopf stöbern wollen könnte. Warum also kann ich seine Gedanken nicht lesen?

»Was soll das?«, fährt Momos mich an. »Wieso stößt du mich, elende Nacktheit?«

Elende Nacktheit? Ächzend richte ich mich auf. »Verzeih, Momos, ich muss dich wohl übersehen haben.«

»Und das gleich zwei Mal hintereinander?« Momos funkelt mich an. »Dein Vorhaben zielte wohl eher auf etwas anderes ab. Doch lass dir versichert sein, dass meine Absichten nicht in diese Richtung laufen. Du solltest dich was schämen, dich derart billig an einen Mann zu schmeißen.« Mit diesen Worten eilt er weiter.

 

* * *

 

Eigentlich hätte ich sie ordentlich zur Schnecke machen sollen, aber ich hatte es eilig.

Wieso ich es eilig hatte? Warum willst du das wissen, Viktoria? Stehst du etwa auf der Seite von Aletheia? Dann gehe ich jetzt sofort wieder!

 

… also gut, das ist ein Argument. Dein Begehren, meinen edlen Charakter besser kennenzulernen, damit du mir die mir zustehende Anbetung zukommen lassen kannst, muss ich selbstverständlich entsprechen. Das ist es schließlich, was ihr Menschen uns Göttern schuldet: Ehrfurcht und Verehrung!

 

Nun, du musst wissen, die Götter geben etwas auf mein Urteil. Deshalb hatte Zeus mich zum Schiedsrichter über einen Wettbewerb gesetzt. Unbestochen und gerecht habe ich mein Urteil abgegeben und weißt du, was ich dafür geerntet habe? Zeus hat mich aus seinem Palast geschmissen. Mich!

Was da denn genau passiert ist, willst du wissen? Tja, das weiß die Wahrheitsgöttin auch nur von dieser blondhaarigen Sirene. 

 

* * *

 

Minoa schlängelt sich zum Tisch und nimmt Platz. »Ich weiß, warum Momos heute Morgen so missmutig dreingeschaut hat«, verkündet sie triumphierend.

Aha. Hicks.

Minoa zieht eine Augenbraue in die Höhe, lässt sich dann aber nicht weiter von meinem Schluckauf stören und fährt eifrig fort: »Zeus hat ihn aus seinem Palast geschmissen. Deswegen lief er so eilig die Straße hinunter.«

Ich lache, schiebe die Tür ins Schloss und setze mich zu ihr an den Tisch. »Wieso hat er ihn – hicks – rausgeschmissen?«

»Nun, sie haben einen Wettbewerb veranstaltet. Momos sollte entscheiden, wer die beste Erfindung gemacht hat. Aber er hatte an allem was auszusetzen, bis es unserem Göttervater zu viel wurde.«

»Welche Erfindungen standen denn zur Auswahl? Hicks.«

»Zeus’ Eisenstier, Prometheus’ Mensch, Athenes Haus und Aphrodites Gürtel.«

»Aber Prometheus war doch gar nicht hier«, rufe ich erschrocken. »Oder etwa doch?«

»Nein, so viel ich weiß nicht, aber das hinderte die anderen nicht daran, ihn absent an dem kleinen Wettkampf teilnehmen zu lassen. Zeus hat extra ein Menschen-Exemplar besorgt und in die Reihe der anderen Gegenstände gestellt.«

Ein Menschen-Exemplar? Du meine Güte. Vermutlich war der Arme völlig geschockt, als er sich plötzlich in Zeus’ Palast unter lauter Göttern wiederfand.

»Dann nehme ich mal an, dass Prometheus gewonnen hat«, sage ich zögernd.

Natürlich weiß ich, dass Prometheus mitnichten der Schöpfer der Menschen ist, aber wenn sie sich schon anschicken, ein Lebewesen mit Gegenständen zu vergleichen, steht das Ergebnis ja von vorneherein fest.

»Prometheus?«, fragt Minoa und sieht mich an, als hätte ich soeben einem Fisch Hörner zugesprochen. »Nein, natürlich nicht, wie kommst du denn darauf? Zeus hat einen schwachsinnigen Bauerntölpel besorgt, der schielte und humpelte. Niemand, der auch nur halbwegs bei Trost ist, hätte ihn als beste Erfindung gekrönt.«

Hm, in der Tat gerechte Wettbewerbsbedingungen! Ich presse die Lippen aufeinander.

Minoa lächelt. »Keine Sorge, Küken, Zeus hat trotzdem nicht gewonnen. Momos ließ nämlich an keiner Schöpfung ein gutes Haar. An Zeus’ Stier bekrittelte er, dass er die Hörner nicht unterhalb der Augen habe, damit er besser sieht, wohin er stößt. Bei den Menschen wollte er das Herz gern außen am Körper wissen, damit man ihnen ihre eventuelle Schlechtigkeit gleich ansieht. Und bei Athenes Haus kritisierte er die fehlenden Räder, mit deren Hilfe sich die Bewohner im Falle eines missleidigen Nachbarn einfacher entfernen könnten. An Aphrodites Gürtel fand er zwar nichts zu mäkeln, schließlich macht der unwiderstehlich, tadelte sie aber trotzdem aufgrund ihrer klappernden Schuhe.«

Ich lache. »Welch ein Sonnenschein, dieser Momos!«

Minoa lacht auch. »Und du wolltest dich an ihn heranschmeißen.«

Wollte ich nicht. Meine wirkliche Absicht kann ich Minoa aber kaum erklären, also sage ich nur leichthin: »Tja, er trägt sein Herz ja auch nicht außerhalb des Körpers, als dass ich das im Voraus hätte erkennen können.«

»Nein«, spottet Minoa, »bei einem Gott des Tadels und der Schmähsucht wäre das nie im Voraus zu erkennen gewesen.« Sie mustert mich amüsiert. »Du hast dich gar nicht für ihn ausgezogen, stimmt’s? Du hast es noch nie gemacht.«

»Was noch nie gemacht?«

Minoa lacht und wirbelt zur Tür hinaus. »Bis morgen, Küken. Denk an mein Mittagessen.«

 

* * *

 

 Danke, Viktoria, der Kniefall wäre jetzt nicht nötig gewesen, aber ich nehme ihn huldvoll zur Kenntnis. Endlich noch jemand, der meine Bedeutung erkennt. Es ist unmöglich, wie ich behandelt werde! Du musst mich unbedingt zu deinem Interview einladen, um dieses himmelschreiende Unrecht wieder gut zu machen.

 

Einzig eine Leserin bei Lovelybooks hat meine wahre Bedeutung erkannt. Sie schrieb:

 

* * *

 

 »Ich denke, nachdem ich fast am Ende des Buches bin, ich würde gerne mehr über Zahur und auch Momos erfahren. Ich finde sie sehr interessant.«

 

* * *

 

Und weißt du, was sich meine Autorin dann erdreistet hat zu antworten? Nein? Sei froh, es war einfach nur beschämend. Sie hat geschrieben:

 

* * *

 

»Dass du Zahur hier aufzählst, kann ich verstehen, und der wird in späteren Bänden auch immer mal wieder eine Rolle spielen, aber dein Hinweis auf Momos hat mich überrascht. Er tritt ja auch nur einmal ganz kurz auf und ich stelle mir eine Geschichte zu dem Gott des Tadels und der Schmähsucht auch recht eintönig vor. Der Arme kann ja gar nicht anders, als in allem immer nur das Schlechte zu sehen. 🙂 Oder hast du dich verschrieben und meintest eigentlich Morpheus, den Gott des Traumes? Der jedenfalls taucht im vierten Band noch mal auf. Seine Geschichte ist so tragisch, ich mag ihn sehr.«

 

* * *

 

Zum Glück hat mich die Leserin tapfer verteidigt: 

 

* * *

 

Nein, ich meinte schon Momos. Er hat zwar nur einen kurzen Auftritt, aber er scheint sehr eigenwillig zu sein, das finde ich schon interessant. Und wer sich mit Zeus anlegt, kann nicht so ganz »ohne« sein. 😉

 

* * *

 

… als ob ich nicht schon von Haus aus faszinierend sei! Was meinst du, warum mich diese Göttin sonst hätte bespringen sollen? Nicht, dass ich sie sonderlich attraktiv fand, ich steh nun mal auf Männer, aber Dionysos soll ganz heiß hinter ihr her sein.

 

»Momos, jetzt aber mal ehrlich! Ich habe dir gesagt, dass Aletheia lediglich in deinen Gedankenraum springen wollte. Dein Sexappeal hat sie keineswegs angemacht, und das weißt du auch.«

 

Da, siehst du, liebe Viktoria, wie ich behandelt werde? Soll sich da noch einer wundern, warum ich stets missgelaunt und mürrisch bin?

Aber wenn du mich einlädst, werde ich versuchen, nur die goldenen Haare in der Suppe zu finden. Über die schwarzen gehe ich dezent hinweg. Versprochen!

Eine Sirene packt aus

Interview mit der Bloggerin Anja Großmann

Sie war die geheimnisvollste Göttin, die ich je gesehen habe. Unsere erste Begegnung fand im Olymp statt. Sie hatte Momos angesprungen und war rüde von ihm abgewiesen worden. Ich dachte mir gleich, dass sie noch sehr jung und unerfahren sein musste, sonst hätte sie gewusst, dass der Gott des Tadels und der Schmähsucht auf Männer steht und es gar nicht erst bei ihm versucht.

Ich musste mir echt ein Lachen verkneifen, als Momos sie darauf hin mit »elende Nacktheit« beschimpfte. Zu dem Zeitpunkt dachte ich ja noch, sie hätte sich extra ausgezogen und die unberührte Jungfrau gemimt, um den hochstehenden Gott herumzukriegen. Erste Zweifel kamen mir, als ich sah, wie sie auf den Satyr reagierte, der sich ihr an Stelle von Momos anbot. Sie wurde so bleich, dass ich dachte, sie müsse gleich in Ohnmacht fallen. Für mich war klar, dass ich ihr helfen musste.

Also ließ ich meinen Sirenengesang ertönen und der Satyr ließ auch prompt von ihr ab, taumelte stattdessen auf mich zu. Männer um den kleinen Finger zu wickeln, fällt uns Sirenen bekanntermaßen nicht schwer, doch Peneios neben mir hatte entschieden was dagegen und begann sofort warnend zu blubbern. Für einen Wassergott ist er erstaunlich eifersüchtig, doch es war bereits zu spät. Wenn die Satyrn erst mal heiß sind, lassen sie sich von nichts und niemanden mehr aufhalten. Mein Flussgott verwandelte sich zu einem reißenden Gebirgsbach und es kam zu einer handfesten Schlägerei.

Ich schnaubte nur und überließ es den Männern, sich die Köpfe einzuschlagen. Stattdessen folgte ich der jungen Frau. Sie strahlte so viel Anmut aus, dass es selbst für eine Göttin ungewöhnlich war. Erwartungsgemäß schrak sie heftig zusammen, als ich ihr die Hand auf die Schulter legte und sie ansprach.

»Du hast mir mein Stelldichein mit Peneios verdorben, schau doch nur!«

Eingeschüchtert blickte sie auf den ächzenden Wirbel aus Armen und Beinen, Schmerzenslaute, Kampfschreie, es hörte sich wirklich furchteinflößend an. Tatsächlich bildete sich schon eine Traube um die beiden. Jeder wollte wissen, welchen Grund ein Satyr und ein Wassergott haben könnten, aufeinander loszugehen.

Der jungen Göttin war das furchtbar peinlich und sie entschuldigte sich tausend Mal dafür, aber ich lachte nur. Meinem Flussgott würde ich den Kopf schon wieder grade rücken, was mich jetzt viel mehr interessierte war ihr Name, ihre Geschichte, ihr Leben. Deshalb folgte ich ihr in ihr Gastquartier und merkte sofort, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Allen Ernstes, sie hatte sich eine voll eingerichtete Küche erschaffen! »Richtest du dich hier etwa für länger ein?«, fragte ich fassungslos.

Das stritt sie eilig ab, aber ich wusste, dass sie mich nur ablenken wollte und mein Interesse an ihr steigerte sich ins Unermessliche. Was hatte die schöne Göttin zu verbergen?

Ich fragte sie, wie sie hieße, aber sie verweigerte mir ernsthaft die Auskunft. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dir meinen Namen nicht verrate, Minoa?«, fragte sie kleinlaut und sah mich aus ihren hellbraunen samtigen Augen an wie ein verletztes Reh. Aha, meinen Namen kannte sie also, aber ihren eigenen wollte sie nicht preisgeben. Hallo, wer tut denn bitteschön sowas? Höchstens jemand, der sich nicht hat registrieren lassen!

Wie es mir kurz darauf gelang, ihr zu entlocken, hatte sie das tatsächlich nicht getan. Zeus sei nicht gerade gut auf ihren Vater zu sprechen, und wenn sie nicht im Tartaros landen wolle …

Alles klar, mehr wollte ich auch gar nicht wissen, bevor ich da in eine Sache hineingezogen wurde, die mich nichts anging. Da ich sie aber trotzdem irgendwie rufen musste, nannte ich die junge Göttin Küken, denn das war sie. Frisch geschlüpft und den Gefahren des Olymps hilflos ausgeliefert.

Warum auch immer, aber ich fühlte das unbändige Bedürfnis, sie unter meine Fittiche zu nehmen. Deshalb plauderte ich ein wenig mit ihr, führte sie in die Geheimnisse der Götterwelt ein und ließ mich von ihr bekochen. Dabei stellte sich erneut heraus, dass mein Küken etwas ganz besonderes war. Sie erdachte sich ihre Speisen nicht einfach, nein, sie stellte sich hinter den Herd und kochte selbst.

Eine Mühe, die sich wirklich lohnte. Ihre phönizischen Hirseklößchen waren der absolute Hammer. Sirenengesang benötigte diese Göttin wirklich nicht, um die Männerwelt zu betören. Ein paar Hirseklößchen, etwas Kräutersauce darüber und jeder Gott fräße ihr aus der Hand. Von Göttern wollte sie aber nichts wissen. Sie war so prüde, dass schon fast der Putz von den Wänden abblätterte.

Dessen ungeachtet schwärmte sie für Dionysos. Und zwar richtig! Nun ist Zeus’ Sohn ja auch wirklich eine Sahneschnitte und dazu der erklärte Nachfolger des Göttervaters, aber dennoch. Wer verliebt sich schon in den Sohn seines größten Feindes? Besser konnte sie gewiss nicht sicherstellen, dass sie sich nie einem Mann hingeben würde. Bei ihrem Aussehen war leider abzusehen, dass dies früher oder später zu einer Katastrophe führen musste. Ich meine, die Beherrschung der Götter ist auch nicht uneingeschränkt belastbar, genau genommen hängt sie meist nur an einem einzigen goldenen Faden … wenn mein Küken nicht an Kaimos erkranken wollte, dann musste sie sicherstellen, dass kein Gott sie berührte, bevor sie ihre Unschuld verloren hatte.

Ich warnte sie deshalb und ermahnte sie dringend, sich einen Menschen zu suchen, der ihr Jungfernhäutchen durchstößt. Erst danach könne sie sich gefahrlos einem Gott hingeben, ohne an jenem tödlichen Liebeskummer zu erkranken, der in Götterkreisen so sehr gefürchtet ist.

Große Hoffnungen hegte ich nicht, dass sie meinem Rat folgen würde und was mir kurze Zeit später über sie zu Ohren drang, bestätigte meine Sorge. Sie hatte Eros geohrfeigt, vor versammelter Mannschaft! Oh Küken, Küken, niemand, der auch nur einigermaßen bei Trost ist, weist einen Liebesgott ab! Eros, den Sohn der Aphrodite und ein Gott der dritten(!) Göttergeneration schon gleich gar nicht! Mein Küken brachte es dennoch fertig und das auch noch ausgerechnet als die Windgötter gerade Einzug im Olymp hielten und alle auf der Straße versammelt waren, um das Spektakel zu genießen! Jeder hatte sie gesehen, klar, dass sie daraufhin im Olymp nicht mehr untertauchen konnte. Zeus versiegelte sofort ihr Haus, als er von dem Vorfall hörte. Dass ihm niemand den Namen der fremden Göttin nennen konnte, ließ sie in seinen Augen natürlich höchst verdächtig erscheinen. Ich machte mir schwerste Vorwürfe, sie im Stich gelassen zu haben. Natürlich kann ich als Sirene nicht auf Dauer im Olymp leben, aber mein Küken hätte jemanden gebraucht, der auf sie aufpasste, so unerfahren und gutgläubig wie sie war! Allerdings war sie Zeus’ Versiegelung wohl doch noch entkommen, wie die Gerüchte munkelten. Keine Ahnung, wie sie das geschafft haben sollte, aber ich wusste ja nun schon, dass sie einige Tricks auf Lager hatte, mit denen sie sich aus derlei Notsituationen herausmanövrieren konnte. Allein ihre telekinetischen Fähigkeiten waren erste Sahne! Wie sie all diese Küchengegenstände um mich hat herumtanzen lassen, das war schon beeindruckend!

Einige Wochen später tauchte sie plötzlich bei mir auf, ließ ihre Zehenspitzen ins Wasser hängen und wartete. Ich packte sie am Knöchel und zog sie blitzschnell unter Wasser. Das fand sie nicht lustig, aber wenn ich nicht riskieren wollte, dass es rechts und links der Meeresenge von Messina zu einem Massensterben käme, durfte ich meine Stimme nicht über Wasser erschallen lassen. Fast schon lächerlich, wie die Menschen auf meine Stimme reagieren! Nicht, dass sich die Götter besser beherrschen könnten, wenn ich meinen Sirenengesang erschallen lasse, aber die stürzen sich wenigstens nicht ins Wasser, wenn sie nicht schwimmen können.

Mein Küken hielt mir ein Fläschchen mit dunkelroter Flüssigkeit hin und bat mich, es zu probieren. Eine Erklärung dazu wollte sie nicht abgeben. Misstrauisch musterte ich das Fläschchen und tippte aufgrund von Farbe, Konsistenz und Energieausstrahlung auf Ambrosia, doch sie hatte irgendetwas damit angestellt. Lust, mich an ihren Experimenten zu vergiften, verspürte ich wenig, aber sie bat mich so lieb und da gab ich halt nach.

Wir tauchten auf und ich ließ mir einen Tropfen der Flüssigkeit in den Mund fallen. Die Wirkung trat sofort ein. Hastig ploppte ich das Fläschchen wieder zu, reichte es ihr und ging unter. Dann erlebte ich den Orgasmus meines Lebens. Bei allen Göttern, das war so berauschend, ich dachte, ich sterbe vor Seligkeit! Was hatte sie da nur für ein Zeug zusammengemischt? Sie, die noch nie einen Orgasmus gehabt hatte! Denn dass sie meinen Ratschlag missachtet hatte und noch immer Jungfrau war, hatte ich sofort gerochen. Mehrere Minuten lang zuckte ich unkontrolliert, dann ließ die Wirkung endlich nach und ich fühlte mich wie neugeboren. Das Küken war in heller Aufregung, wohin ich denn so plötzlich verschwunden sei, bat mich dann aber, herauszufinden, wie lange die jungerhaltende Wirkung des veränderten Ambrosias anhielte. Das konnte ich ihr auch nicht sagen, als sterbliche Chimäre benötige ich schließlich keine Ambrosia. Wahrscheinlich habe ich deshalb diesen verjüngenden Orgasmus davon bekommen. Was blieb mir also anderes übrig, als meinen Freund davon kosten zu lassen? Als Gott ist er auf die Ambrosia angewiesen, doch welche Wirkung das Zeug bei ihm entfalten würde, konnte ich beim besten Willen nicht vorhersagen. Für gewöhnlich regte der Genuss von Ambrosia seine Libido an, aber dies Fläschchen?

Peneios trank nur einen Tropfen, danach war er völlig aus dem Häuschen und besorgte es mir drei Tage lang so heftig, dass ich kaum mehr geradeaus schwimmen konnte. Ich wäre ja gerne noch länger geblieben, aber allzu lange wollte ich das Küken nicht auf den Wellen treiben lassen. Zeus‘ Späher haben ihre Augen überall!

Einen Konkurenzhandel zu Zeus‘ Ambrosiamonopol wollte das Küken nicht eröffnen, sie gab sich aber mit der beschriebenen Wirkung ihres Ambrosias zufrieden, dankte mir und zog ab, um irgendwelche Verträge mit Zeus auszuhandeln. Was genau sie von ihm wollte, hat sie mir nicht erzählt, sie machte stets um alles ein riesiges Geheimnis, aber ich befürchte, sie hatte keinen Erfolg, denn seit jenem Tag hat sie nie wieder jemand gesehen.

Gezeichnet: Minoa, die Sirene der Meeresenge von Messina.

Daimonisches Interview

Interview mit der Bloggerin Eulenzaubers Bücherkiste

Pünktlich abends um sieben finde ich mich an dem unscheinbaren Waldsee in der Nähe des Dörfchens Stockenhausen ein und warte der Dinge, die da kommen sollen. Allein: Es kommt nichts. Hat mich die Autorin etwa versetzt?

Nein, sie kommt nur notorisch zu spät!

Mein Kopf fährt herum, aber da ist niemand. »Wer spricht denn da?«

Jemand, der dich bereits erwartet, antwortet die Stimme. Begib dich jetzt umgehend in den See!

»Ins Wasser!«, kreische ich und weiche einige trippelnde Schritte vom Ufer zurück. »Da werden meine wunderschönen wuschigen extra heute Morgen noch auf Lockenwickler gedrehten Federn doch nass!«

Na und? Wenn es regnet, werden sie auch nass. Ich dachte, du hast keine Angst vor dem Zeitstrudel!

Ich zögere noch, da erklingt ein wunderschöner Gesang und plötzlich ist mir alles egal. Ich folge dem Locken der Töne, die das Wasser zum Vibrieren bringen, taste mich Schrittchen um Schrittchen in den See hinein, beginne jedoch schon bald zu schwimmen, weil der Grund zu steil abfällt. Puh, ich hasse schwimmen! Ich meine, welche vernünftige Eule spielt schon freiwillig Ente? Ich fühle mich dezent vereult, ehrlich! Da verspricht man mir, ich könnte einen Traumkerl in jeder möglichen Form interviewen, und dann sowas …!

Plötzlich greift ein Strudel nach mir und ich werde in die Tiefe gerissen. Noch bevor ein euliger Schrei meinen Schnabel verlassen kann, finde ich mich in einem Kokon aus leuchtenden Fäden wieder. Die lieblichen Töne hüllen mich ein, trocknen meine Federn und füllen mich mit einem berauschenden Gefühl. Ob ihr es mir glaubt oder nicht, aber durch einen Zeitstrudel zu reisen, fühlt sich eulig an.

Ehe ich mich versehe, ist auch schon alles wieder vorbei und ich stehe auf einer vergiss-mein-nicht-blauen Ebene, die sich in sandigen Wellen bis zum Horizont hinzieht, nur hier und da von lila Pflanzen durchsetzt. Die Nacht ist bereits hereingebrochen und am Himmel sehe ich leuchtende Sternennebel. »Na also, war doch gar nicht so schwer!«, sagt eine derart angenehm männliche Stimme, dass mir die Federn beben. Wer bitteschön ist mit solch einer betörenden Stimme gesegnet? Ich fahre herum und starre den hochgewachsenen Mann mit dem Sanduhrbärtchen an. Glatte braune Haare hängen ihm bis auf die Schultern, der schwarze Umhang verleiht ihm etwas Düsteres, doch aus dem Gesicht leuchten zwei helle graugrüne Augen.

Aha, so also sieht ein gefährlicher Daimon aus. Ungelogen attraktiv und diese Stimme! Zum Niederknien! Wie sehr ich von ihm angeeult bin, lasse ich mir natürlich nicht anmerken, stattdessen piepse ich tapfer: »Dolos nehme ich mal an?«

»Hallo Eulchen«, ruft da eine fröhliche Stimme, eine rundliche blonde Frau geht vor mir in die Hocke und reicht mir die Hand. »Ich bin die Autorin. Schön, dass du dich durch den Zeitstrudel getraut hast. Herzlich willkommen in Philian!«

Ohne lange nachzudenken, strecke ich meine Krallen aus und lege sie sanft auf die angebotenen Finger. »Ich freue mich auch. Das ist also das sagenhafte Philian?« Demonstrativ drehe ich meinen Kopf einmal rundum – auf die Beweglichkeit meines Halses bin ich äußerst stolz und so führe ich sie bei passenden Gelegenheiten auch gerne vor – aber wohin ich auch schaue, überall sieht es gleich aus.

»Genaugenommen befindest du dich auf der Nordhälfte von Samiela, dem zweigeteilten Planeten«, antwortet die Autorin freundlich und richtet sich wieder auf. »Der Treffpunkt hier in der Ebene ist sicherer als drüben in Naarija.«

Jetzt grummelt der Daimon vor sich hin und ich meine ihn etwas von Unverschämtheit murmeln zu hören, ausgerechnet sein Land als gefährlich abzustempeln.

Im selben Moment dreht sich die Autorin um und murmelt ein hastiges: »Wenn Ihr mich dann bitte entschuldigen würdet, ich muss mich noch frisch machen.«

Irritiert schaue ich ihr hinterher. Was will sie da denn frischmachen? Sie ist doch gar nicht geschminkt! Noch größer werden meine Augen, als plötzlich eine Tür auf der Ebene erscheint, sich öffnet und hinter der Autorin wieder schließt.

Wie kam die Tür plötzlich dorthin? Ich rücke meine Brille zurecht und verrenke mir den Kopf, doch die Autorin ist auf der anderen Seite der Tür nicht wieder rausgekommen, da bin ich mir ganz sicher.

Himmel noch mal, was passiert hier eigentlich???

Der Daimon grinst zufrieden: »Sie hat sich ein Bad erdacht, weil ich ihr den Wunsch nach Schminke in den Kopf gesprochen habe.«

»Aber warum denn?«, piepse ich etwas verloren. »Wir hatten uns doch gerade erst kennengelernt. Sie war irgendwie nett.«

Der Daimon zuckt mit den Schultern. »Ich wollte mit dir allein sein.«

Plötzlich bin ich beunruhigt. Will er mir jetzt etwa beweisen, dass er tatsächlich gefährlich ist? Oder sonst was?

»Auch keine schlechte Idee«, meint der Daimon und grinst diabolisch. »Aber ich habe Frau Morgenstern versprochen, dich nicht anzurühren, und ich breche meine Versprechen nie. Du musst dir also keine Sorgen machen.«

Interessiert spitze ich den Schnabel und kräusle die Ohren … der Kerl verwirrt mich irgendwie! »Dann willst du mir Geheimnisse enthüllen, von denen Frau Morgenstern nichts wissen darf?«

Ein spöttisches Lächeln umspielt die schmalen Lippen des Daimons. »Meine Autorin hintergehe ich nicht. Im Grunde genommen ist sie ganz nett, auch wenn sie nicht gerade zimperlich mit mir umspringt. Aber sie liebt mich und das rechne ich ihr hoch an. Sie hat sogar schon Tränen für mich vergossen – mehrmals! – das vergesse ich nicht.«

Typisch … harte Schale, weicher Kern. Das wird interessant! Mal sehen, ob ich ihn auch zum Weinen bringen kann.

Mit einem Mal steht ein hübscher, eisengeschwungener Bistrotisch vor dem Daimon, dazu ein ebenso verzierter Gartenstuhl. Auf der gegenüberliegenden Seite des Tisches erscheint eine in der Luft schwebende Vogelstange, auf die der Daimon nun mit einladender Geste weist.

Wie überaus aufmerksam von ihm! Ich flattere darauf, empfinde die Sitzgelegenheit als sehr angenehm und denke, dass mir jetzt eigentlich nur noch ein Glas eisgekühlte Cola und ein paar Butterkekse (nicht die Vollkornvariante, man gönnt sich ja sonst nichts) fehlen, um vollständig glücklich zu sein. Im selben Augenblick zucke ich zurück und falle fast hintenüber, weil das Gewünschte plötzlich vor mir steht. Wo zur Eule kam das denn jetzt her?

»Das ist die Wunschkraft Mayas«, erklärt der Daimon schmunzelnd. »Sie lässt deine Gedanken Wirklichkeit werden, sofern du eine Ahnung von dem hast, was du dir da gerade vorstellst.«

Ich halte einen Moment inne, und die Krümel an meinem Schnabel sind mir etwas peinlich, aber dann picke ich eilig weiter. Den Daimon scheint es nicht zu stören, dass ich meine Butterkekse ohne zu teilen verzehre. Schweigend sieht er mir zu.

Kaum habe ich alles aufgegessen, huscht mein Blick wieder zu der blaulackierten Tür. Sollte die Autorin nicht mal bald zurückkommen?

»Ich habe sie nur weggeschickt, weil wir sie nicht brauchen«, erklärt der Daimon. »Jede Frage über sie kann ich genauso gut beantworten wie sie selbst, vermutlich sogar noch besser. Du weißt schon: Menschen unterliegen oft der Selbsttäuschung oder sie begreifen einfach nicht, wie sie wirklich sind. Ich dagegen lasse mich nicht täuschen.«

Seine Worte bringen mich zum Schmunzeln: »Natürlich nicht, du bist ja auch der Daimon der Täuschung und des Betrugs. Du täuscht andere.« Man sieht, ich habe mich informiert, bevor ich hierher aufgebrochen bin.

Dolos nickt bestätigend und selbstzufrieden.

»Woher kann ich dann wissen, dass du mich bei deinen Antworten nicht täuscht?«, frage ich mit zur Seite geneigtem Kopf.

Der Daimon seufzt. »Für eine mutige Eule bist du ganz schön vorsichtig! Aber gut, ich verrate es dir. Dass ich dir heute die Wahrheit sagen werde und nichts als die Wahrheit liegt an Aletheia. Sie hat mir das Versprechen abgenommen und du weißt, dass sie mitunter sehr überzeugend sein kann. Sie ist der Ansicht, dass ich mit verlogenen Worten gewiss keine Werbung für ihr Planetensystem machen kann, in dem doch die Wahrheit regiert.«

»Passt du denn dann überhaupt in ihr Sonnensystem?«, frage ich vorsichtig. »Ich meine: Du repräsentierst immerhin das Gegenteil davon.«

»Wahrheit und Täuschung sind nur zwei Seiten einer Medaille«, entgegnet Dolos lässig, lehnt sich zurück und zündet sich eine Zigarette an. »Ohne mich ist Aletheia nicht vollständig. Wir müssen beide lernen, das Wesen des anderen in unseren eigenen Charakter zu integrieren.«

»Das heißt, du hast es inzwischen gelernt, die Wahrheit zu ertragen?«, hake ich interessiert nach.

»Mehr als das!«, brummt der Daimon und ist auf einmal verschwunden.

Irritiert drehe ich meinen Kopf gleich zweimal auf meinem Hals herum, doch von dem Daimon ist nichts mehr zu sehen. Mist! Unruhig tripple ich auf der Stange hin und her. Im ersten Brief an mich hat Dolos davon gesprochen, dass er Eulen zum Frühstück verspeist, dass es aber erst gefährlich für mich wird, wenn er sich unsichtbar macht. Ist jetzt also der richtige Zeitpunkt, um in eulige Panik zu verfallen?

Hatschiiii! Ein vorwitziger Sonnenstrahl kitzelt mich an der Nase, und ich niese gleich noch einmal. Seltsam, wo kommt der Sonnenstrahl her? Hier in Maya ist es Nacht, am Himmel funkelt ein überwältigendes Meer an Sternen, da ist weit und breit keine Sonne zu sehen! Jetzt tanzt der Sonnenstrahl sogar entgegen allen Gesetzen der Physik vor mir in der Luft herum, wird dunkler, breiter, verliert das Immaterielle und plötzlich steht da wieder der finstere Daimon und sieht mich triumphierend an.

Ähm was? Dass er jede beliebige Gestalt annehmen kann, hat er ja bereits beim ersten Briefkontakt verraten, wieso glaubt er nun, ich müsse in Begeisterungsstürme ausbrechen? Das, was ich sehen will, ist definitiv nicht die Verwandlung in einen Sonnenstrahl! Die Verwandlung in Mr. sexiest man alive, James Bay, ja damit könnte mich der Täuschungsmeister beeindrucken. Bei seinem Anblick wird mir immer ganz eulig und seine Stimme verursacht mir Federflug im Magen!!

»Menschen!«, stöhnt Dolos abgrundtief und verdreht die Augen. »Du hast wohl noch nie nachgeschaut, von wem ich abstamme, oder?«

»N…nein«, stottere ich und mache mir gedanklich eine Notiz, das bei zukünftigen Interviews immer schon im Voraus abzuklären. Ist ja nicht das erste Mal, dass mir ein kleiner wichtiger Punkt entgeht …

»Meine Eltern sind Götter der ersten Generation«, lässt mich Dolos wissen. »Erebos, der Gott der Dunkelheit ist mein Vater und Nyx die Göttin der Nacht meine Mutter.« Er macht eine kleine Kunstpause. »Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie schmerzhaft Licht für mich ist?«

»Nicht wirklich«, stottere ich. »Aber wie kann dir Licht Schmerzen zubereiten, wenn du dich selbst in einen Lichtstrahl verwandeln kannst?«

»Tja, das Stichwort heißt ›Desensibilisierung‹«, antwortet Dolos und verwandelt sich tatsächlich in James Bay. Ich bin kurz davor, mir in die FlügelZehen zu beißen. Der Typ hat wirklich ein umwerfendes Aussehen und er zwinkert mir auch noch frech zu. Ich schmelze dezent dahin. »Bis vor wenigen hundert Jahren konnte ich die Dunkelheit nie ganz verlassen. Doch Daimonen schrecken vor keiner Herausforderung zurück und so setzte ich mich jeden Tag ein bisschen länger der Qual des Lichtes aus, bis es irgendwann nicht mehr weh tat.«

»Aber warum solltest du das tun?«, frage ich verwirrt und leicht unaufmerksam, denn meine Blicke wandern zu der begehrten Frisur.

»Aletheia ist eine Göttin des Lichts!«, antwortet der Daimon lakonisch und richtet seinen Blick in unbestimmte Ferne. »Aus Wahrheit und Licht gestaltet.«

Beides Dinge, die er aufgrund seiner Herkunft nicht ertragen kann, fährt es mir durch den Kopf. Warum will er sich dann ausgerechnet in ihrer Nähe aufhalten? »Dann leidest du also unter masochistischen Anwandlungen?«, hake ich interessiert und fast schon ein wenig mitleidig nach. Jemand, der so gut aussieht, sollte nicht leiden müssen. Obwohl, mich reizt es ja schon, ihm ein bisschen Schmerzen zuzufügen! Gerade so viel, dass er sich an mich erinnert, wenn ich wieder weg bin.

Dolos verdreht die Augen. »Dass ihr Frauen aber auch immer auf so blöde Ideen kommt! Sogar Aletheia war davon überzeugt, dass ich ein verkappter Masochist sein müsse, nur weil meine Leinwand ohne mein Wissen eine Fühlfunktion in ihr Bilderbuchkino eingebaut hat und uns mit den Geburtsschmerzen von Elias Mutter beglückt hat.«

»Du hast eine Leinwand, die Gefühle in ihren Zuschauern hervorruft?«, frage ich mit plötzlich aufflammender Begeisterung.

»Klar, aber ich verleihe sie nicht an Menschen. Und keinesfalls wird sie ›Weil es dich gibt‹ spielen, nur damit du noch ausgiebiger vor dem Fernseher heulen kannst, wenn das ungewöhnliche Liebespaar endlich zueinanderfindet.«

Leicht beleidigt lehne ich mich zurück. »Ich habe doch nicht mal gefragt!«

 »Aber du hast es dir vorgestellt und das ist schon Profanisierung meiner Leinwand genug. Sie ist ein unverzichtbares Instrument für die Überwachung Philians.«

Verstimmt über seine Zurückweisung, beschließe ich, mich in Schweigen zu hüllen.

»Jetzt komm schon, Eulchen, wenn du Gefühle erleben willst, dann lies halt Bücher, vorzugsweise die über mich. Da kannst du lachen, weinen und gerührt sein, wann immer du willst. Und das über vier Bände hinweg.«

Vereult verschränke ich die Schwingen vor der Brust. So geht das nicht, ernsthaft! Der Daimon bestreitet das Gespräch fast ganz allein, wo bleiben da meine Fragen? Schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen. Und über seine Frisur haben wir noch nicht mal ansatzweise gesprochen. Ist ja nicht so, als hätte ich ihn nicht vorgewarnt in meinem Brief. Bevor ich zum Sprechen ansetze, fixiere ich ihn knallhart mit meinen durchdringend grünen Augen und grolle: »So, mein Lieber … jetzt kommen wir mal zu dem, weswegen ich hier bin! Ich hätte da ein paar Fragen vorbereitet, meine Leser warten darauf, dass ich gewisse Dinge in Erfahrung bringe und dir mindestens einmal die Frisur ruiniere.«

»Das bewahrst du dir lieber für das Original auf«, wehrt der Daimon rasch ab und wechselt die Gestalt zu seinem vorigen Aussehen. »Wenn du mich lieb darum bittest, kann ich James Bay ja vielleicht dazu bringen, dass er demnächst bei deinem Eulennest anklopft und …«

»Na, na, na …« sage ich eulig, hüpfe ihm auf die Schulter, lege ihm mein Flügelchen auf den Mund und bringe ihn damit zum Schweigen. »Jetzt stelle ich dir mal ein, zwei oder hundert Fragen, mein Hübscher. Erzähl mir doch mal, in welche Buchwelt würdest du sofort auswandern, um dort zu leben, sie zu erkunden, epische Schlachten zu schlagen, die große Liebe zu finden oder einfach um das Essen dort zu probieren und andere Buchcharaktere zu treffen? Die Möglichkeiten sind ja vielfältig!«

Der Daimon lehnt sich bequem nach hinten und kriegt es fertig, mich von oben herab zu mustern, obwohl ich seinen Kopf überrage, solange ich auf seiner Schulter sitze. »In die Welt des Joaquín de Alvaros (›Die Blutbraut‹ von Lynn Raven)! Dessen magische Fähigkeiten würde ich tatsächlich mal gerne mit eigenen Augen sehen. Und seiner Blutbraut würde ich den Kopf zurechtrücken, das dürfte den Magier ziemlich erstaunen. Er wird nicht verstehen, warum sie plötzlich keine Angst mehr hat, ihn von ihrem Blut trinken zu lassen. Ja, in Konkurrenz mit diesem Magier zu treten, dürfte ganz lustig werden. Allerdings ist er trotz allem nur ein Mensch und ich bleibe lieber unter meinesgleichen. In der Welt der Hermandad würde ich Zahurs Schöpferkraft darüber hinaus wohl auch sehr vermissen und meine ›Lieblingsöttin‹ vermutlich ebenfalls.«

Ich nutze die Gelegenheit, während er redet, stecke meinen Schnabel in seine Haare und schnuppere ganz vorsichtig daran. Mhmmm .. lecker!

»Hm, das klingt ja alles ganz gut. Aber bist du sicher, dass die Blutbraut scharf darauf ist, dass du ihr den Kopf zurechtrückst? Vielleicht kommt ja alles anders als du denkst und sie rückt dir etwas … ach egal. Kommen wir lieber zu meiner nächsten Frage. Du hast die Möglichkeit eine/n Protagonist/in aus einem anderen Buch in deine Geschichte einzuladen und dort den Tag mit dir zu verbringen. An wen geht diese Einladung und wie überzeugst du diesen Buchcharakter, das Angebot anzunehmen?

»Nun ja, wenn schon, dann würde ich mir den Höllenfürsten von Kristin Wöllmer-Bergmann ›Helena – im Bann der Unterwelt‹ ins Boot holen. Seine Praktiken der Rekrutierung finde ich ganz interessant. Aber vielleicht würde ich mir auch nur ganz einfach Winni Puh hierher holen. Dann hat Aletheia was zum Knuddeln.«

»Echt, auf sowas steht sie? Na ja, jeder, wie er will. Ich bevorzuge da doch etwas weniger … ähm … Kuscheliges«, antworte ich abwesend und ziehe meinen Schnabel wieder aus Dolos Frisur. Ich überlege ernsthaft, wie ich ihm beibringen kann, dass ich dort einziehen will. »Sag mal, du erlebst ja ganz schön viel in deiner Geschichte, oder? Gibt es etwas, dass du deiner Autorin schon immer mal ungeniert um die Ohren hauen wolltest? Raus damit! Ich sags auch nicht weiter. Vorausgesetzt du verwandelst dich in Mr. Schmusesamtstimme Tom Odell …«

»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Eulchen, oder? Du ziehst seine Stimme der meinen vor?«

Er verleiht seinen Worten ein derart schnurrendes Vibrato, dass mir ein wohliger Schauer den Rücken hinunterläuft. Nein, wenn ich es mir so überlege … blond steht ihm eh nicht. Dolos grinst. »Ob ich unserer Frau Morgenstern etwas zu sagen habe? – Ja klar. Sie plant doch allen Ernstes, elf andere Bände herauszugeben, bevor sie mit Aletheia und mir weitermachen will. Da habe ich entschieden etwas dagegen. Ich meine, was glaubt sie eigentlich, wie angenehm es ist, sein Dasein als Schmetterling zu fristen?«

Der Ärmste. Ein Schmetterling? Na, so schlimm kann es ja nicht sein, wenn Schmetterlinge in seiner Welt SO aussehen wie er. Ohne Scheu lasse ich meine Blicke über seinen alles andere als schmetterlingshaften Körper wandern, bevor ich auf seinen Kopf hüpfe, mit meinen Krallen für euliges Wohlbefinden auf seiner Kopfhaut sorge und mich wohlig in seine Haare einkuschle. Himmlisch. Ein paar davon nehme ich nachher mit nach Hause, jawoll. Oder ich nehme den ganzen Dolos mit, das muss ich mir erst noch überlegen. Bevor er dazu kommt zu protestieren, stelle ich schnell meine nächste Frage. »Egal was passiert. Welcher Ratschlag hilft dir immer und durch alle Lebenslagen? Oder durch 11 weitere Bände?«

Wie beiläufig pflückt mich Dolos aus seinen Haaren und setzt mich wieder auf die Vogelstange. Dabei lächelt er so süß, dass ich ihm nicht böse sein kann und einfach erneut dahinschmelze. »Meine Devise lautet: Gib niemals auf, so ausweglos deine Lage auch erscheint. Das hat mir in meinem bisherigen Leben noch stets zum Sieg verholfen. Für dich, kleines Eulchen, gilt das allerdings nicht. Du kannst mich noch so lange bezirzen wie du willst, ich stelle dir meinen Kopf gewiss nicht als Nistplatz zur Verfügung. Da gibt es ganz andere Vögel, die danach schon geschielt haben. Nicht wahr Chephe?« Er dreht den Kopf demonstrativ zur Seite.

Jetzt erst entdecke ich den kleinen unscheinbaren Kolibri mit den unverschämt langen Schwanzfedern, der da durch die samtige Nacht auf uns zugerast kommt. »Wer ist das denn?«, frage ich wenig begeistert darüber, Konkurrenz bekommen zu haben.

»Ein abgespalteter Teil von Aletheia. Chephe selbst behauptet immer, sie sei der bessere Teil der beiden.«

Einen Fingerbreit vor Dolos Nase bleibt der fremde Vogel in der Luft stehen und starrt den Daimon böse an. »Du hast jetzt aber nicht vergessen, wer dich vor dem Tod bewahrt hat, Daimon, oder?«

»Wie könnte ich?« Er grinst den Vogel frech an. »Immerhin musste ich mir an die hundert Jahre lang einen Körper mit dir teilen. Diesen Horror vergisst man nicht so schnell wieder.«

Ich muss mir ein Grinsen verkneifen, kann ich doch förmlich sehen, wie sich der gefiederte Winzling vor Empörung aufplustert. Süß, der Kleine. Gut, nicht so süß wie der Daimon, aber annehmbar. Vielleicht schicke ich dem Vögelchen mal eine Einladung ins Eulennest. Kann ja nie schaden, gute Kontakte in alle möglichen Welten zu haben. Zu einer Erwiderung auf Dolos‘ Bemerkung kommt er aber nicht mehr, denn plötzlich steht eine atemberaubend schöne Frau vor uns. Vor Schreck flattere ich auf und verfehle beim Landen knapp die Vogelstange. Zum Glück ist die Ebene hier so weich, dass ich mir bei meinem Sturz nicht wehgetan habe. Mit offenem Schnabel starre ich die Erscheinung an. Ihre dunkelblonden Haare hängen ihr lockig über die nackten Schultern und ihr roséfarbenes Seidenkleid weht im Wind. Der warme Glanz ihrer braunen Augen verzaubert mich sofort.

»Dir ist die Zukunft wohl zu Kopf gestiegen, Dolos!«, spricht sie mit melodischer Stimme. »Vielleicht hätte ich unseren Gast doch lieber einhundert Jahre früher hier ankommen lassen sollen? Dann hätte sich die Eule mit einem Schmetterling unterhalten können und bei einer frechen Antwort wärst du gleich mal in ihrem Eulenschnabel verschwunden.«

»Darf ich vorstellen«, sagt Dolos nonchalant und verbeugt sich leicht. »Die Herrscherin über Philian: Aletheia, die griechische Göttin der Wahrheit.«

»Danke Dolos, aber das wusste sie schon!«

Der Daimon grinst mich an. »Nur zu deiner Information, Eulchen: Sie liest deine Gedanken.«

Eulig-elegant verdrehe ich die Augen. Als hätte das der Daimon nicht auch schon die ganze Zeit gemacht! Von Privatsphäre halten Götter wohl nichts. Noch immer starre ich die Göttin an und kriege keinen Ton heraus, was aber wenig stört, da die Göttin sowieso vernimmt, was mir durch den Kopf geht.

Ihr seid also eine Schicksalsgöttin, die das Leben ihrer Menschen malt?, denke ich ehrlich beeindruckt.

»Das tue ich«, erwidert sie hoheitsvoll. »Doch an dieser Stelle sollten wir das Interview beenden. Alles Notwendige ist bereits gesagt. Wenn du mir also bitte die Hand reichen würdest, bevor du in Atemnot gerätst. Ich bringe dich zur Erde zurück.«

»Warte, gewähre mir noch eine letzte Frage an Dolos, ja?«

»Nun gut, aber schnell, kleines Eulchen«, antwortet sie und ich nicke.

»Was möchtest du den Lesern deiner Geschichte mit auf den Weg geben?«, frage ich ihn und bin mehr als neugierig auf diese Antwort. 

»Sollte ich mich nicht zumindest noch von der Autorin verabschieden?«, frage ich verunsichert und schaue zu der blaulackierten Tür, die immer noch verloren in der Gegend herumsteht. Sanftes Wasserrauschen ist zu hören.

Der Blick der strahlend schönen Göttin folgt meinem. »Das war nicht die echte Autorin, Eulchen, Menschen können in Maya nicht atmen.«

»Aber ich bin doch auch hier«, stammle ich verwirrt.

»Du bist eine Eule, das ist etwas anderes«, antwortet Aletheia knapp, »aber selbst für dich könnte es jetzt langsam gefährlich werden.« Dann wendet sie sich dem Daimon zu und zischt: »Lass deine Marionette endlich wieder verschwinden!«

Im selben Moment öffnet sich die Tür und eine Autorin in Kriegsbemalung erscheint. Sie hat wirklich keine Übung mit Schminken und es dabei völlig verkackt. Knallrote Lippen, die an einer Seite deutlich über den Rand der Lippen hinausgehen, erinnern an ein Mädchen, das sich an Mamas Schminkkoffer vergriffen hat. Die tiefschwarzen Wimpern heben zwar ihre leicht türkisfarbenen Augen hervor, aber zu den blonden Haaren wirkt das alles völlig übertrieben.

»Sei nicht so gemein, Dolos!«, schimpft Aletheia, lässt die verunstaltete Autorin mit einem Wink ihrer Hand verschwinden, pflückt mich vom Boden und im nächsten Augenblick befinde ich mich wieder im Eulennest.

Uff, bei den Göttern geht es echt krass zu, denke ich, bedanke mich noch einmal und im nächsten Augenblick ist die wunderschöne Göttin verschwunden, samt ihrem Duft, der so berauschend ist wie das pure Leben selbst. Wie soll ich meinen Lesern jetzt nur erklären, dass ich die Autorin gar nicht getroffen habe?